Ein außergewöhnlicher Präzedenzfall:
Wolfgang Tillmans in der Bibliothek des Centre Pompidou
Ein außergewöhnlicher Präzedenzfall:
Wolfgang Tillmans in der Bibliothek des Centre Pompidou
Wolfgang Tillmans
von Nela Eggenberger,
Zu Beginn dieses Herbstes endete mit „Nothing could have prepared us – Everything could have prepared us“ (13. Juni – 22. September 2025, Centre Pompidou, Paris) eine Ausstellung von Wolfgang Tillmans, die nicht nur aufgrund ihrer räumlichen Dimensionen neue Maßstäbe setzte. Ein Gespräch mit dem Künstler über ein monumentales Projekt, dessen rezeptives Nachbild sich nun langsam nach Ablauf der Schau entwickelt.
N.E.„Nothing could have prepared us – Everything could have prepared us“: Mit dem Titel bringe ich irgendwie einen Vortrag im mumok in Verbindung, bei dem du so treffend festgestellt hast, „das historisch Wichtige kündigt sich nicht vorher an und sagt: ,Jetzt wird’s wichtig!‘“❶ Wie nähert man sich so einem „Tanker“, dieser riesigen Bibliothek, grundsätzlich überhaupt an?
W.T.Wenn man dort oben auf dem Balkon steht, kommt tatsächlich so etwas wie ein ozeanischer Gedanke auf, aber ein Tanker ist zugleich auch ein riesiges Wissensreservoir. Dieses Wissensreservoir ist nun durch den Umzug der Bibliothèque publique d’information (Bpi)❷ natürlich erstmal weg. Der Raum wäre eigentlich neutral, er wurde leer geräumt, und die Schließung stand bevor. Aber dann kam die Idee von Laurent Le Bon, dem Direktor des Centre Pompidou, jemandem für diese Fläche eine Carte blanche zu geben. Sein an mich gerichtetes „Mach damit, was du willst!“ war dabei natürlich leichter gesagt als getan. Ich wollte mich dann wirklich mit der Bibliothek auseinandersetzen – diese inhaltliche Schwerpunktsetzung war aber nicht Teil des Briefings. In diesem Zusammenhang war auch das Wohlwollen der Bibliotheksmitarbeiter:innen gefragt, die ja ihre Millionen von Büchern übersiedeln mussten – sie wussten zwar, dass meine Ausstellung der Institution guttut, trotzdem hätten sie sich so etwas wohl nicht unbedingt erträumt. Mich hat dieser Ort inspiriert, weil ich seit 30 Jahren mit Büchern zu tun habe, noch viel länger Print liebe und seit 20 Jahren Tische verwende – insofern hat das alles Sinn ergeben. Was dabei herauskam, war jedoch in keiner Weise absehbar.
N.E.Diese 6000 Quadratmeter offene Fläche, die von den Architekten ursprünglich ohne Wände geplant wurde, boten aber nicht gerade ideale Bedingungen für eine Ausstellung.
W.T.Ich nehme Räume zunächst als das wahr, was sie sind – da gibt es für mich erstmal nicht so ein wahnsinnig hartes Urteil. Dann schau ich, was geht, was man verwenden kann, was andere Leute vielleicht gar nicht anfassen würden, weil sie’s zu hässlich finden … Für eine Ausstellung dermaßen viel Grundfläche zur Verfügung zu haben war schon sehr ungewöhnlich. Mit 6000 Quadratmetern ist diese Schau weit größer als die im MoMA, die mit 2400 Quadratmetern bisher meine größte war.❸ Diese großen offenen Flächen, die zuvor von den Bibliothekstischen besetzt waren – so eine Situation ist, das muss ich wirklich sagen, nicht wiederholbar oder als Modell auf andere Kontexte übertragbar. Was ich als Idee hingegen möglicherweise beibehalten könnte, sind die Elemente, die parallel zu den Buchregalen stehen, die diagonalen Displays.
N.E.Du meinst die abgeschrägten Wände, welche die neu entstandenen Arbeiten, zu denen etwa auch Pompidou CMYK Separation, b zählt, zeigen?
W.T.Genau, ich spreche von diesen verschiedenen Deklinationen der Wände. Between Bridges etwa wird zur Hälfte auf einer Wand präsentiert, der andere Teil hängt auf einem Buchregal, die Rückseite der Between Bridges-Wand zeigt die Europa-Plakate, ihnen gegenüber steht wiederum eine Art schräge Vitrine oder Pult. Das alles findet auf relativ kleinem Raum statt, wie in einem Fußabdruck, in den verschiedene Display-Einheiten in den Raster der dort zuvor stehenden Regale eingepasst wurden. Diese Situation war für mich etwas völlig Neuartiges: Wo sonst stehen sich zehn Meter lange Flächen relativ eng gegenüber, bilden aber trotzdem einen funktionierenden Raum?
N.E.Die beiden Spiegel-Tische gegenüber, der eine quadratisch, der andere sieben Meter lang, die beide die Decke durch die Reflexion nach unten holen – ist das eine Hommage an die beiden Architekten des Gebäudes, Renzo Piano und Richard Rogers?
W.T.Ich bin ein absoluter Fan dieser Deckenträger, die für den Kunstbetrieb hochproblematisch sind, weil sie einen eigentlich sechs Meter hohen Raum alle zwölf Meter auf dreieinhalb Meter einschränken. Diese sogenannten Gerberträger sehen unglaublich toll aus, was ich bei meinem Gespräch mit Renzo Piano auch ansprach. Das überraschte ihn allerdings nicht sonderlich, weil er meinte, wir alle mögen gerne Dinge, bei denen wir erkennen, wie sie funktionieren.❹ Sie haben einfach etwas wahnsinnig Anschauliches, weil sie Physik formal sichtbar machen. Das Zickzack der Streben versteift den Balken unglaublich, nur so kann man ein 60 Meter langes freitragendes Gewölbe realisieren. Im Centre Pompidou haben sie dieses Prinzip ins Extreme getrieben. Zugleich zeigt sich darin aber auch ein Paradoxon der Moderne: Einerseits existiert der Wunsch nach einer offenen und freitragenden Architektur – andererseits mag die Kunst einfach auch gerne vier Meter hohe Wände. Dieses Nachdenken über den Raum ist mir insgesamt sehr wichtig, ich sehe ihn immer auch als etwas Physikalisches, als eine Oberfläche, eine Struktur und stelle mir die Frage: Was trägt ihn, was ist Verschalung?
N.E.Das Centre Pompidou ist dann eigentlich auch ein sehr ehrliches Gebäude, das Skelett ist offengelegt, und man sieht, wie die Architektur funktioniert.
W.T.Ich habe mich mit der Thematik der ehrlichen Architektur länger auseinandergesetzt, und es kam heraus, dass ganz vieles, was ehrlich erscheint, nicht ehrlich – im Sinne von tragend – ist. Zunächst erschien mir entscheidend, dass das, was das Gebäude aufrecht hält, sichtbar ist. Später habe ich gemerkt, dass etwa bei allen modernen Hamburger Backsteinbauten, wie z.B. auch dem Chilehaus, nur dünne Backsteine auf der Fassade sitzen, die wie Mauern aussehen, aber nicht tragen. Insofern zieht der Ehrlichkeitsbegriff in der Architektur oft nicht so richtig.
N.E.Bei deiner Zweikanal-Videoinstallation Book for Architects geht es auch um Ehrlichkeit, indem die Architektur mit der Lebensrealität der Menschen konfrontiert wird.
W.T.Ja, Book for Architects funktioniert ohne entzerrende Linsen, ohne die in der Architekturfotografie üblichen Stilmittel. Ich wollte die Architektur so abbilden, wie ich sie in ihrer Gebrauchsrealität sehe. Das ist etwas, was in der Architektur immer ab dem Tag der Fertigstellung auseinanderläuft – das Bild, das am Reißbrett entworfen wurde, das vielleicht sogar mit fotografischen Ideen im Hintergrund konzipiert wurde …
N.E.… und dann kommen die Menschen ins Spiel und machen gleich einmal etwas, was die Architekt:innen nicht vorgesehen haben, bauen etwa Wände in Museen ein.
W.T.Ja, so wie hier zum Beispiel: Wie die Ausstellungsräume des Centre Pompidou die letzten 40 Jahre ausgesehen haben, war ja überhaupt nicht im Sinne von Rogers und Piano, die so freie und offene Räume wollten wie letztlich die auf der zweiten Etage der Bpi – und die ich im Wesentlichen auch so belassen habe. Das erweist sich überhaupt als eine wichtige Strategie in meiner Arbeit: Das Nichtstun ist genauso entscheidend wie das Tun. Bewertet wird das aber natürlich anders, aktives Tun steht immer viel höher als die Entscheidung, etwas einfach zu lassen. Dabei sind oft das Zulassen und das Nicht-aktiv-Eingreifen das Schwierigere.

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Alizée Gousset und Corinna Kranig

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Jens Ziehe | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York

Foto: Wolfgang Tillmans | Courtesy: Galerie Buchholz; Galerie Chantal Crousel, Paris; Maureen Paley, London; David Zwirner, New York
N.E.Lass uns über deine Arbeiten im Kontext dieses besonderen Ortes sprechen, also über diejenigen, die das Papier thematisieren, die dieses Material aufgreifen, wie etwa Lighter oder die Werkgruppe paper drop: Haben diese Arbeiten einen besonderen Stellenwert innerhalb eines Raums, der zuvor so von – bekanntlich aus Papier gemachten – Büchern geprägt war? Oder wirkt sich der Ort auf andere Weise auf das Arrangement der Arbeiten aus?
W.T.Im MoMA bekamen manche Werkgruppen aus Gründen der Vollständigkeit der gesamten Erzählung von 35 Jahren keinen eindeutigen Platz zugewiesen. Für die Besucher:innen ist eine klarere Gliederung allerdings ab und zu wirklich hilfreich. Und in einer Bibliothek ist so etwas natürlich überhaupt nicht fehl am Platz, ohne Ordnung gibt es schließlich keine Bibliothek. Hier, in der Bpi, habe ich also dieses Prinzip aufgegriffen: Es gibt den Raum mit Freischwimmer und Greifbar, dazu eine Portrait-Wand und daneben noch eine Wand zum Thema Medizin. So etwas tue ich sonst eigentlich nicht, hier aber wollte ich erkennbare Momente setzen. Und Papier war mir als Material ohnehin schon immer wichtig. Spätestens um 2000 herum ist mir klar geworden, dass alles, was ich mache, Papier zur Grundlage hat.
N.E.Gerade bei einer fotografischen Position wie deiner ist es interessant, den Bildträger auf so unterschiedliche Art und Weise zu thematisieren, wie bei paper drop, wie bei Lighter. Bei den Freischwimmer-Arbeiten, die ja in der Dunkelkammer entstehen, geht es eigentlich auch um die Beschäftigung mit der Materie, um das Zeichnen mit Licht …
W.T.Die Bezeichnung „Dunkelkammer-Arbeit“ ist für mich neu, nachdem ich früher kaum erklärt habe, wie die Werke entstehen. Die Arbeiten Greifbar, Freischwimmer, Blushes sind zeichnerisch, sie bilden die Bewegungen meiner Hände, meines Körpers ab. Da kommt eine Art von Kontrolle zum Ausdruck, die eigentlich nichts mit dem zufälligen Belichten oder Mit-der-Linse-Belichten zu tun hat. Für mich ist jedoch jedes Foto ein Experiment in der Dunkelkammer, da jede Arbeit, jedes Portrait, jedes Stillleben in der Dunkelkammer entsteht. Ich beobachte ständig Sprache und finde es faszinierend, dass wir identische Dinge oft anders benennen. Für mich zählt auch ein Portrait zu einem totalen Experiment in der Dunkelkammer.
N.E.Ja, beim analogen Prozess, aber nicht beim digitalen, der vorab schon über das Display kontrolliert werden kann …
W.T.Nein, denn ob ein Bild tatsächlich ein Werk wird, lässt sich nicht vorab über das Display erkennen. Man kann technische Dinge sehen, etwa ob das Bild verwackelt ist. Aber solche Kriterien haben ja noch nie darüber entschieden, ob eine Fotografie zu einem Werk wird oder nicht.
N.E.Da muss ich dir natürlich zustimmen. Wenn wir jetzt aber noch einmal auf dein Gesamtwerk schauen, dann finde ich es faszinierend, dass es irgendwie so zufällig und heterogen erscheint – und dennoch ein ganz eigenes, zusammenhängendes Universum ergibt. Die Arbeiten harmonieren einfach miteinander, trotz der unterschiedlichen Größen, Themen und Ausarbeitungen.
W.T.Dass hier ein Zusammenhalt entsteht, hat mit denselben Größenverhältnissen zu tun: 10 x 15 cm, 30 x 40 cm, 51 x 61 cm und die ganz großen 270 x 400 cm. Kurz gesagt, es gibt eine Art Matrix bei den Formaten. Dieses Grundgerüst verwende ich seit 1992, also seit 33 Jahren. Was innerhalb dieses Schemas geschieht, liegt dann allerdings in meinem freien Ermessen.
N.E.Das sieht man dann wohl, wenn Bildmaß und Blattmaß teilweise voneinander abweichen, insbesondere bei den Arbeiten, die etwa links und rechts von weißen Rändern gerahmt, nach oben und unten hin aber abfallend sind …
W.T.Schön, dass dir das aufgefallen ist, denn die allerwenigsten Kritiker:innen oder Kurator:innen bemerken oder thematisieren das. Dabei ist das für mich ein wahnsinnig wichtiger Rhythmus, der sich durch das ganze Werk zieht. Er entsteht dadurch, dass sich das Kamerabild, das ich immer in der vollständigen Größe, ohne Ausschnitte zu wählen, verwende, dem industriell gefertigten Blattmaß unterwirft; wobei ich dafür vorwiegend das Kleinbild gewählt habe, das ich schon mein ganzes Leben lang verwende – das bedeutet ein Verhältnis von 2:3. In Europa haben Kodak und auch die anderen Hersteller wie Fuji und Agfa unter anderem ein Blattmaß von 12 x 16 Inch, also 30 x 40 cm produziert, das bedeutet ein Seitenverhältnis von 3:4. Das ist also quadratischer als das Kleinbildformat von 2:3. Schon während meiner College-Zeit erschien mir aber das Format 30 x 40 cm attraktiver als das Format 8 x 10 Inch (20 x 25 cm), das war mir zu klein. So fing ich also mit diesem A3-ähnlichen Format an und fand, dass ein Kleinbildnegativ immer irgendwie cool aussah auf diesem 3:4-Format, mit einem weißen Balken unten oder zwei weißen Balken links und rechts, je nachdem. Das war damals, als ich 1990/91 zu vergrößern begann, ganz schnell für mich entschieden, ohne dass mir das jemand gesagt und ohne dass ich bewusst Vorbilder der Fünfzigerjahre, wie etwa Steichens Buch The Family of Man, zu Rate gezogen hätte. Ich habe jetzt etwas ausgeholt, aber das sind eben genau die Dinge, die zählen.
N.E.Wie blickst du eigentlich auf den heutigen Tag, den 18. September 2025, an dem das gesamte Gebäude – kurz vor dem Ende der Ausstellung – plötzlich ganztags wegen eines Gewerkschaftsstreiks geschlossen war – und man den Pariser:innen ja nicht wirklich böse sein kann, dass sie auf die Straße gehen, um ihr demokratisches Recht auszuüben?
W.T.Da das aus unserer Sicht nur zu gut zu dem Klischee von Frankreich passt, nimmt man das schon nicht mehr so ernst. Das Team, mit dem ich hier arbeite, nimmt das aber sehr wohl ernst. Als es vor einer Woche schon einmal so einen Tag unter dem Motto „Bloquons tout“ (dt.: Alles stilllegen) gab, hat die Bookshop-Verantwortliche von sich aus alle Buchständer mit meinem Titel What’s wrong with redistribution? bestückt. Wobei ich mich persönlich in keiner Weise dieser französischen Linkskultur zuordnen kann, weil ich die für zu ressentimentbeladen und dogmatisch halte – auf der anderen Seite aber leidenschaftlich für die Besteuerung von Höchstverdienenden bin. Trotzdem bin ich gegen die Verurteilung des Unternehmerischen, dieser Dynamik, die unser Leben gestaltet, auch im Positiven. Wir brauchen die amerikanische oder chinesische Dynamik. Das europäische Modell funktioniert nur so gut – oder genauer: mehr schlecht als recht, aber dennoch gut –, weil es die kapitalistischen Dynamiken woanders gibt.
N.E.Abschließend nochmals zu dieser Ausstellung als Gesamtkunstwerk, die ja eigentlich gar nicht anders kann, als in die Geschichte einzugehen, und das aus vielerlei Gründen: dein Umgang mit dem Ort, seiner Seele, seiner Architektur; die intensive Zusammenarbeit mit der Institution, im Zuge deren alle mit ins Boot geholt werden mussten; und dann auch noch die Laufzeit der Schau kurz vor der fünfjährigen Schließung des Centre Pompidou …
W.T.Ja, ich bin ganz dankbar dafür, dass letztlich alles geklappt hat, weil es so viele Unwägbarkeiten im Vorfeld gab. Für das ganze Projekt waren nur drei Jahre Zeit, und ein Jahr davon war von der Institution her noch mit einem Fragezeichen belegt – womit dann eigentlich nur mehr 20 Monate bis zur Eröffnung blieben, was für diese Größenordnung wirklich wenig ist; für das MoMA hatte ich zum Beispiel sechseinhalb Jahre Zeit. Nachdem ich mir bereits ein Jahr Gedanken gemacht hatte, wurde mir von Menschen, die es gut mit mir meinen, dringend geraten, es sein zu lassen, eine solch riesige Fläche mit Leben zu füllen, ohne dass sich das Ganze in gähnender Leere, in klaffender Weite, in runtergerockter Hässlichkeit verliert, das sei zum Scheitern verurteilt. Insofern war es eine riesige Herausforderung, den Kampf nicht aufzugeben, sondern aufzunehmen – und den Raum mit Energie und Details zu füllen, denn nur wenn es detailreich genug ist, dann ist es auch interessant. Und da haben dann glücklicherweise viele Faktoren besser funktioniert als erhofft. Das weiß ich. Und Florian Ebner, der Kurator der Ausstellung, weiß das auch. Aber dass es auch ganz leicht nicht aufgehen hätte können, das sieht man als Außenstehende:r nicht.
- ❶
„Wolfgang Tillmans: Extended“, Lecture Performance, mumok, Wien, 20. Mai 2022.
- ❷
Der Bestand der Bpi ist während der fünfjährigen Umbauphase des Centre Pompidou als Bpi Lumière im 12. Pariser Arrondissement zugänglich.
- ❸
„Wolfgang Tillmans: To look without fear“, MoMA, New York, 12. September 2022 – 1. Jänner 2023.
- ❹
Siehe: Wolfgang Tillmans, „A Vision Rooted in the Idea of Freedom: Meeting with Renzo Piano“, in: Florian Ebner, Olga Frydryszak-Rétat, Wolfgang Tillmans: Nothing could have prepared us. Everything could have prepared us, Ausst.Kat. Centre Pompidou, Paris–Leipzig 2025, S. 71.



